Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart – eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

Leuchtturm auf Felsen am Meer
Fernhören
Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.
Loading
/

Hallo! Hier sind die Reisefrequenzen. Heute sind wir unterwegs auf einer Tour durch Lviv. Ukraine. Lemberg hieß die Stadt auf deutsch und jiddisch, Lwów auf polnisch. Eine Stadt voller Leben, Moderne, Geschichte, Schönheit, Verfall und Zerrissenheit. Ein Bericht aus der Zeit kurz vor dem Krieg.

Im Jahr vor der Pandemie reiste ich gen Osten. Und jetzt geht mir diese Reise nicht mehr aus dem Kopf. Meine Gedanken wandern in die von Russland angegriffene Ukraine. Mein Bericht ist der einer friedlichen Reise und somit nicht aktuell. Ich schreibe diese Tour durch die Stadt, um Euch und Ihnen die Besonderheit Lemberg / Lvivs vorzustellen. Es ist ein Text über eine seit dem 24.02.2022 vergangene Zeit.
Eine viel zu kurze Woche lang erkundete ich die Stadt Lemberg / Lviv, deren historisches Zentrum seit 1998 zum Weltkulturerbe gehört. Ihre zahllosen modernen Facetten und ihre kulturell multiethnische Vergangenheit. Eine Reise in Lembergs / Lvivs Geschichte und Gegenwart.
Vor dieser Reise war ich gespannter als vor einem Flug nach Australien. Und ich fragte mich, warum ich über ein Land in Europa weniger als über das südliche Patagonien wusste. Dabei liegt Lviv / Lemberg nur 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt im Nordwesten der Ukraine. 
(Lange habe ich mir Gedanken über die Nennung des Stadtnamens gemacht. Den Sprachregeln nach sind Namen von Städten und Landschaften immer auf deutsch zu verwenden. Viele Veröffentlichungen über die Stadt nennen sie bei ihrem alten Namen Lemberg. Durch die Berichterstattung über die Schrecken des Krieges wird Lviv präsent. Ich verwende beide Stadtnamen, Geschichte und Gegenwart.)

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

1. Ankunft in Lemberg/Lviv.

Wir fliegen in die abendliche Dunkelheit. Der Flughafen ist unerwartet modern, ziemlich leer und sehr schummrig beleuchtet. Geld tauschen – Euro in Griwna/Hrywnja -, Wasser kaufen, nach einem Taxi in die Stadt suchen. Während Geld und Wasser kein Problem sind, kommen wir mit dem Transportsystem nicht klar. Ein nach Kundschaft suchender Taxifahrer kommt auf uns zu, spricht ein wenig englisch und fährt uns und das Gepäck über die schlaglochgepflasterte Straßen für 10 € in die Innenstadt von Lviv / Lemberg.
Wir üben ein paar Worte ukrainisch, ich transferiere beim Lesen der Buchstaben aus dem Griechischen. Aber wir sind in der Kommunikation auf englisch oder deutsch angewiesen. Im Zentrum von Lemberg / Lviv klappt das glücklicherweise gut.

Unsere Ferienwohnung liegt in einem gründerzeitlichen Stadthaus. Die schlossähnliche neogotische Fassade erzählt von Paris, die Schönheit bröckelt und ich eile vorsichtig nach oben schauend unter dem Balkon hindurch. Über einen Hof erreichen wir das Hinterhaus. Die Eingangstür ist kaputt, wir steigen über die knarrende Treppe in den dritten Stock hinauf. Unsere Vermieter öffnen und wir stehen in einem modernen, stylischen Ambiente. Welch ein Kontrast. Während der kurzen Wohnungseinweisung zeigt mir Kyrill den alten Deckenbalken, den er beim Renovieren freilegte. „Lemberg“ steht mit schwarzer Schreibschrift darauf. Als die Stadt noch zu Österreich gehörte hat jemand vor dem Transport den Zielort auf das Stück Bauholz geschrieben.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.
Potocki Palast in Lviv/Lemberg

2. Das Ossolineum. Der Potocki Palast.

Am nächsten Morgen beginnen wir unsere Streifzüge durch die Stadt. Gegenüber steht das Gebäude des Ossolineums, das heute von der Nationalbibliothek genutzt wird. Das Ossolineum war das Archiv und Forschungszentrum polnischer Literatur und bis zur Plünderung und teilweise Vernichtung im Zweiten Weltkrieg ein intellektueller Treffpunkt in Lemberg, dem polnischen Lwów. Heute existiert die Institution in Wrozlaw / Breslau weiter.
Nicht weit entfernt steht der frisch renovierte, helle Palast der Grafen Potocki. Das französisch klassizistische Gebäude beherbergt die Borys Voznytsky Lviv National Art Gallery europäischer Kunst. 
Auf dem Weg in die Innenstadt erspähen wir unsere Lieblingsziele. Die Cafés. Tortenfülle, Schokolade und Kaffee. Angebot und Atmosphäre, hinter denen sich Wien schüchtern verstecken könnte. Die Küche der Habsburger Monarchie hat in Süße überlebt.

3. Das Hotel George. Das Danylo Denkmal. 

Wir haben hier nicht gewohnt. Aber Franz Liszt und auch Balzac auf dem Weg zur Gräfin Hanska übernachteten im Vorgängerbau des Hotels George am heutigen Adam-Mickiewicz-Platz.

Die Wiener Architekten Fellner&Helmer errichteten es bis 1901 neu und die Gäste ließen nicht lange auf sich warten. Ravel, Sartre, Kiepura und viele andere verbrachten hier ihre Zeit. Als Nikita Chrustschow kam, nannte sich das Haus „Inturist“. Von 1939-41 und von 1944–1990 gehörte Lemberg / Lviv zur Sowjetunion.
Ein paar Schritte weiter steht das Denkmal des reitenden Königs Danylo von Galizien. Der Fürst des Kiewer Rus Fürstentums Galizien-Wolhynien war der Gründer der Stadt, 1254 wurde er vom Papst gekrönt. Lemberg / Lviv ist voller Geschichte.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.
Denkmal für König Danylo

4. Zahlen berichten die Geschichte 

Vielleicht ist Lviv / Lemberg nach Danylos Sohn Lew, dem Löwen benannt. Für die Löwenstadt begann 1256 die Geschichte. Bis 1349 gehörte sie zu Galizien-Wolhynien, dann kommt die Stadt an Polen. Mit der ersten Teilung Polens 1772 fällt das polnische Lwów an das Haus Habsburg. Um 1900 hatte Lemberg etwa 160.000 Einwohner, davon die Hälfte Polen, 44.250 Juden, 30.000 Ruthenen/Ukrainer, Deutsche, Armenier. Lemberg war eine bedeutende Garnisonstadt, multikulturelles Zentrum, intellektueller Wissenschaftsstandort und wirtschaftlich erfolgreich. 
Nach dem ersten Weltkrieg gründete sich die Westukrainische Volksrepublik und wurde von Polen wieder eingenommen. Im November 1918 das erste Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Nach dem Zerfall des Habsburger Reiches und dem polnisch-ukrainischen Krieg kam Lemberg zu Polen. 1939 besetzten sowjetische Truppen die polnische Stadt Lemberg / Lwów als Folge des Molotow-Ribbentrop-Pakts (Hitler-Stalin-Pakt). Lemberg / Lviv hatte 345.000 Einwohner. 160.000 Polen, 100.000 Juden, 55.000 Ukrainer. 1941 Einmarsch deutscher Truppen. 1946 lebten von den 345.000 Menschen noch 30.000 in der Stadt. Nach 8 Jahren Krieg und Schreckensherrschaft. 15.000 Polen, fast keine Juden. Die Zuwanderung begann und die Zahl der in Lviv / Lemberg wohnenden Ukrainer stieg stetig. Heute leben ungefähr 720.000 Menschen in Lemberg/Lviv und ungezählte Flüchtlinge erreichen die Stadt. Geschichte in Zahlen.
Die Häuser erzählen noch von der habsburgischen k. u. k. Zeit. Obgleich Lemberg im Zweiten Weltkrieg dreimal bombardiert wurde, zweimal von Deutschland und einmal von der Sowjetunion, haben sie mehrheitlich zwei Weltkriege überstanden. Ihre Bewohner nicht.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

5. Der Marktplatz/ Rynok

Der Marktplatz ist eine Perle. Ich kann mich nicht satt sehen. Anders als in den wieder aufgebauten Nachkriegsstädten gibt es hier unendliche viele alte Kleinigkeiten zu entdecken. Balkonbrüstungen, Kellergitter, Abstandhalter, Fenstergriffe. Die Architektur der Häuser um den Platz ist grandios. Geschmückte Hausfassaden vom Mittelalter bis heute, detailreiche Renaissance bunt bemalt, ein „Schwarzes Haus“ des italienischen Architekten Tomaso Alberti von 1577 und in der Mitte das fast weiße, klassizistische Rathaus. Ein Hauch Italien im Norden. Ungefähr auf dem gleichen Breitengrad wie Regensburg.

Vom Turm gibt es einen schönen Blick über die Altstadt. 
Das Kornjakt–Haus, in dem der polnische König Jan III. Sobieski häufig übernachtete, ist ein Museum und eingerichtet wie ein Adelspalais. In einem Salon hängt ein Gemälde, das Maria Klementina Sobieski zeigt. Sie hatte einen schönen Sohn, den schottischen Pretender Bonnie Prince Charlie, den letzten Thronanwärter aus der Stuart-Dynastie. Lemberger Geschichten. Zum Palast gehört ein Italienischer Hof, der obwohl erst aus dem 20. Jahrhundert doch recht echt nach Renaissance aussieht.
Es ist früher Frühling, die Stadt ist noch nicht von Touristen gekapert. In den Ecken des Platzes stehen barocke Brunnen auf denen sich Neptun, Diane, Amphitrite und schließlich auch Adonis tummeln. Die Schwemme der Besucher kam mit dem Sommer. Jetzt wird gerade erst die Eisbahn auf dem Marktplatz abgebaut. 
Der Marktplatz/Rynok ist ein Mittelpunkt des Amüsierens. Es gibt zahlreiche Cafés, Restaurants, Craftbeer Kneipen und süße Ecken. Ein Schwerpunkt sind die Themenrestaurants, die wie aus einem kommerziellen Guss erscheinen und sehr erfolgreich sind.

Neben aller Schönheit gibt es Widerspruch. Bogdan zeigt uns begeistert das Restaurant Kryivka, dessen Motto der Partisanenkrieg ist. Nur mit einem ukrainischen Passwort wird Einlaß gewährt, auf der Speisekarte gibt es Frühstück des Wehrmachtssoldaten und Mittagessen Hitlers. Ein halber Panzer steht in der Ecke und für Schießübungen liegen Waffen bereit. Es hat gute Bewertungen bei Tripadvisor.
An der Ecke steht „Prawda“, das Hofbräuhaus auf ukrainisch. Eines der hier gebrauten Biere heißt „Frau Ribbentropp“, auf dem Etikett ist ein Bild von Angela Merkel. Das war 2019. Ich stelle mir vor, wie zur Hauptsaison der Partytourismus durch Lviv / Lemberg rauscht.
Igor und Oleg erzählen uns vom finanziell schwierigen Leben und vom Krieg im Osten, der für alle gegenwärtig ist. 
Überall wehen die blau-gelben Fahnen der Ukraine. Selbst die Schnittblumen sind blau-gelb eingefärbt zu kaufen. 

6. Die Lateinische Kathedrale. Die Boim Kapelle.

Ein paar Schritte vom Marktplatz entfernt steht die Lateinische oder Marien-Kathedrale. Die katholische Kathedrale war und ist der religiöse Mittelpunkt der Polen in Lviv/Lemberg. Ursprünglich gotisch, später barock umgebaut und mit einem spätbarocken Deckengemälde zwischen den gotischen Gewölbegurten dekoriert.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.
Lateinische Kathedrale (Mariä-Himmelfahrt)

Nebenan steht die faszinierende Boim-Kapelle. Sie ist das einzige, was vom ehemaligen Friedhof um die Kirche herum übrig blieb. 1611 ließ sich die wohlhabende ungarische Familie Boim die Kapelle als ihr Mausoleum erbauen. Reiches Dekor schmückt die Fassade. Während unten Petrus und Paulus stehen, wird oben die Passionsgeschichte dargestellt. Renaissance par excellence. Nur leider findet sich, obwohl wir jeden Tag wieder vorbeischauen, kein Schlüssel zur Öffnung des Inneren und die ausgehängten Öffnungszeiten sind Makulatur.

7. Die ehemalige Jesuitenkirche Peter und Paul, die ukrainische Garnisonkirche

Ein paar Meter weiter steht die nächste der über 80 Lemberger Kirchen. Wir drücken die schwere Tür auf und genießen es, im großen Raum zur Ruhe zu kommen. 1610 wurde der Grundstein der Jesuitenkirche gelegt. Ihr Bau manifestiert die jahrhundertelange gewichtige Rolle des katholischen Ordens in Lemberg. In sowjetischer Zeit wurde sie, wie viele andere Kirchen auch, geschlossen. Nun ist sie, nach 65 Jahren renoviert und seit 2012 als ukrainische Garnisonkirche geöffnet.

Im Seitenschiff ist ein Altar zum Gedenken an die im Krieg gegen Rußland gefallenen Soldaten aufgebaut. Teile von Waffen liegen dort, Fotos der Gefallenen sind aufgestellt. Ketten weißer papiergefalteter Vögel hängen unter dem barocken Deckengemälde. Frauen verharren in der Stille.

8. Die Armenische Kirche.

Im Armenischen Viertel, nicht weit vom immer vollen armenischen Künstlercafé, steht die Armenische Kathedrale in einem vergitterten Hof. Wir gehen in den dunklen, kühlen Raum und tauchen in eine mystische Welt. Das Licht fällt durch die Fenster in der Kuppel und beleuchtet die goldenen Streifen an den Wänden, sonst ist es schummrig in dem typisch kreuzförmigen Raum. Vorne verharrt ein Mann und betet. Seit dem 14. Jahrhundert steht die Kirche der Armenier hier. Unerwartet und magisch ist ihre Ausgestaltung im kühnen, leicht makabren Jugendstil.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

Josef Mehoffer und Jan Henryk Rosen, zwei polnische Künstler, haben sie in den 1920er Jahren großflächig ausgemalt und zu einem der kunsthistorischen Höhepunkte Lembergs gemacht.

9. Gedenkstätte der Synagoge Goldene Rose

Isaak Nachmanowitz, Rat der höchsten Institution der jüdischen Selbstverwaltung im Königreich Polen, konnte mitten in der Stadt das Grundstück erwerben und die Synagoge Goldene Rose bis 1582 fertigstellen lassen. Rosa Nachmanowitz, seine Frau, hatte den Bau gegen alle Einsprüche der Jesuiten durchgesetzt und so wurde der Gebetsraum nach ihr benannt. 1941 zerstörten die deutschen NS-Machthaber und ihre Kollaborateure die Synagoge. Die Beit Midrasch und die Große Zentralsynagoge nebenan wurden ebenfalls vernichtet. Seit 2016 ist das Gelände eine Gedenkstätte. Ein Denkmal aus schwarzen Stelen mahnt. Gedichte und Zitate der jüdischen Lemberger sind auf dem kalten Stein geschrieben. Auch das von Deborah Vogel, die 1942 mit ihrer Familie im Lemberger Ghetto erschossen wurde. Während meines Besuchs treffen sich hier Jugendliche zum Trinken.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

Kirchen und Gedenkstätten als Zeugnisse einer multiethnischen und multireligiösen Zeit.
Du bist traurig wie ein Floß. still und traurig wie das Glück. Mit dir werden Jahre vergehen. wer gedenkt der verlorenen Jahre…“ Debora Vogel aus Lemberg “Liebesgedicht“

10. Die Polytechnische Hochschule. Die Georgskathedrale. Die Universität.

Lviv/Lemberg ist eine hügelige Stadt. Wir spazieren eine lange Runde südwestlich des Stadtkerns bis zur Polytechnischen Hochschule hinauf. Die Straßenzüge sind gesäumt mit stolzen Häusern, Gründerzeit und ab und zu ein Jugendstilzitat. Dann sehen wir sie vor uns, sie erstreckt sich straßenlang und dominant. Die Polytechnische Hochschule in Lviv ist ein Gebäude in italienischer Neorenaissance, 1873 – 77 vom Architekten Julian Zacharewicz gebaut. Sie ist unglaublich prunkvoll und sorgsam renoviert.

Aus jeder ionischen Säule, aus jeder Gipsskulptur spricht Habsburgs K&K und das Selbstverständnis einer intellektuellen Stadt. Ich gehe zögerlich in den monumentalen Aufgang und fühle mich ganz klein. Sorgsames Dekor, Antikenrezeption, welch ein Ort, um zu studieren. 
Dann setzen wir unseren Weg fort.
Nach einer kleinen Bergabkurve erhebt sie sich stolz vor mir. Glänzend im Abendlicht und im schönsten Barock thront sie auf einer Anhöhe über der Stadt. Die Georgskathedrale in Lviv/Lemberg gehört seit 1990 wieder der griechisch-katholischen Gemeinde. Innen ist sie viel lichter und verspielter als die gotischen Kirchen der Innenstadt und die barocke Ausstattung tendiert zum goldenen Rokoko. 

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.
Kathedrale St. Georg

Das dritte prachtvolle Gebäude auf dieser Runde ist die Iwan-Franko-Universität am Ende des gleichnamigen Parks. Ihr gegenüber steht das realsozialistische übergroße Denkmal des Dichters und Gelehrten Iwan Franko. Lviv/Lemberg ist immer wieder eine Überraschung. Gerade noch glaubte ich am Ende der Skala des Prachtvollen angekommen zu sein, da macht die Uni einen galanten Strich durch diese Vorstellung. Pracht und Glanz des Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Bauwerks galten jedoch zunächst nicht den Studenten, sondern das Haus beherbergte den Landtag  Galiziens und Lodomeriens. Gerade verlässt eine Gruppe älterer Frauen die Uni, ihre Kopftücher sind eng zusammengezogen, es weht ein kalter Wind. Ende einer Arbeitsschicht. 

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.
Iwan-Franko-Universität

11. Die Zitadelle. 

Nochmal hinauf, zur Zitadelle über der Stadt. Es ist kein schöner Weg, der Müll liegt auf dem Gras. Die Zitadelle gehörte zu einem großflächigen österreichischen Militärkomplex aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Von hier oben sollte die Stadt Lemberg gesichert und nie wieder beschossen werden.
Von 1942 bis Januar 1944 existierten in den fast fensterlosen Gebäuden Stalag 328 und 325. Straflager hauptsächlich für sowjetische Kriegsgefangene. Über 142.000 Menschen starben an Hunger, Krankheit, Folter, Hinrichtung.
Jetzt ist ein Teil der Zitadelle ein Hotel und videoüberwacht. Es ist ein massiver Backsteinbau, hübsch anzusehen. Drumherum verfallen die Kasernen. 

12. Das Freilichtmuseum. Der Lytschakiwski-Friedhof.

Die ersten Tage der Woche in Lviv/Lemberg sind schnell vergangen. Heute fahren wir in die Natur, mit einem Uber Taxi zum Freilichtmuseum Schewtschenko-Hain. Bei einer kleinen Wanderung über das großen Freigelände besuchen wir die Holzkirchen und einfachen Bauernhäuser, die einst in der näheren und weiteren Umgebung standen.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

Galina erzählt von der ethnischen Minderheit der Huzulen und gürtet ihre wollne Joppe. Ein Mann kocht Suppe auf dem Feuer während er aufgeregt nach seinen Hasen schaut. Vom Frühjahr bis zum Herbst ist das Freilichtmuseum belebt. Ich erschrecke vor dem einstmals krassen Gegensatz zwischen der Stadt Lviv/Lemberg und dem Land.
Der Lytschakiwski-Friedhof ist ein Ort der Toten. So groß, das man sich im Leben hier verlaufen kann. Seit Beginn seiner Anlage 1787 war der Lützenhofer Friedhof der Lemberger Begräbnisplatz der Mittel- und Oberschicht. Über 300.000 Grablegen liegen verwunschen zwischen Sträuchern und Bäumen, viele vom Verfall geprägt. Es ist ein Ort, um still zu werden. Deutsch, polnisch, ukrainisch, russisch sind die Grabinschriften. 
Zum Friedhof gehören die Grabfelder der Kriegstoten. Auch die Lviver Gefallenen des aktuellen russisch-ukrainischen Krieges seit 2014 und der russischen Invasion seit Februar 2022 werden hier begraben.

Auf dem Rückweg erklärt uns in der Straßenbahn ein Seemann das Stempelsystem. Er macht mit seiner Freundin einen Landausflug.

13. Der Bahnhof. Spuren jüdischen Lebens in Lemberg. Das ehemalige jüdische Lazarus-Krankenhaus.

Bahnhöfe waren für mich immer ein guter Ort. Sie waren keine touristischen Themenparks sondern Treff- und Knotenpunkte, eilig oft. Ich mochte das Kommen und Gehen, den Moment, in dem Geschichten in der Luft stehen. Jetzt ist dieser Bahnhof zum Fluchtort geworden, hoffnungslos überfüllt, wir kennen die Fernsehbilder. Flucht nach Polen.
Der Bahnhof von Lviv/Lemberg wurde 1861 eröffnet, das neoklassizistische Empfangsgebäude kam 1888 hinzu. Es gibt tatsächlich noch die Wartehallen der damals drei Eisenbahnklassen, ansonsten herrscht innen auch der Stalin-Stil. Große Leuchter, rosa und zartblaue Wände, klassizistische Kassettendecken. Der alte Bahnhof von Lviv/Lemberg ist eines der städtischen Baudenkmale.

Nicht weit vom Bahnhof verkaufen arm gekleidete Menschen ihre landwirtschaftliche Produkte, jedes Ei und jede Kartoffel einzeln.
Wir suchen die Zeichen jüdischen Lebens. Das ist ein doppeltes Erschrecken. Die Zerstörung im Holocaust. Der Antisemitismus heute. Das Hakenkreuz an der Tsori-GiladSynagoge nicht weit vom Bahnhof. Das Hakenkreuz gegenüber der innerstädtischen Jakub-Glanzer-Schul. Beide Institutionen sind in Betrieb.

Wir finden das ehemalige jüdische Lazarus-Krankenhaus in der Rappaport-Straße, es ist ein verspielter orientalischer Bau. Heute beherbergt es eine Frauenklinik. Im Garten liegen die Reste der von Nationalsozialisten zerstörten Gräber des einst größten jüdischen Friedhofs der Stadt. Beschriebene zerschlagene Bruchstücke. 

14. Stadtwege durch Lemberg/Lviv.

Zurück in der Innenstadt streifen wir zu weiteren Entdeckungen. Und kommen ins Gespräch. Ich erlebe die Leute aus Lviv als kommunikativ und hilfsbereit. Manchmal sind sie etwas schroff, nur auf den ersten Ton. Aber ach, das kenne ich, ich komme aus Berlin. 
Julia erklärt uns, die Architektur der Stadt deprimiere sie. „Wir wissen, was ihr hier sucht. Wir finden es nicht.“ Lange denke ich über ihre Sätze nach.
Es gibt noch so viel mehr in Lviv/Lemberg zu entdecken. Das Haus der Wissenschaften, früher war es ein Offizierscasino vom Wiener Büro Fellner&Helmer gebaut, die auch die ursprüngliche Berliner Komische Oper konzipierten.

Den Buchmarkt, die anderen über 70 Kirchen, die Denkmäler und all die stillen Zeichen aus den verschiedenen Epochen.

Die Skulpturen für den Lemberger Erfinder der Petroleumlampe Ignacy Łukasiewicz, für den Lemberger Leopold von Sacher-Masoch der ungewollt zum Namensgeber sexueller Fantasien wurde und den kleinen Zwerg aus Breslau, der die Heimat vieler von hier geflüchteter polnischer Familien grüßt.

Und natürlich die Cafés!
Für uns ist der Abschluss grandios. Stravinskys Feuervogel im Opernhaus von Lviv/Lemberg, dem Prachtbau am Stadtboulvard. Sigmund Gorgolewski schuf um 1900 hier eines der schönsten Opernhäuser Europas für die Stadt.

Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart - eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.

Der polnische Dichter Adam Zagajewski schrieb ein Gedicht über Lemberg / Lviv für seine Eltern, die ihre Stadt Lwów 1945 verlassen mussten. Den Eltern
“… Sche­ren, Ta­schen­mes­ser, Ra­sier­klin­gen kratz­ten, 
schnip­sel­ten, kürz­ten die mol­li­gen Kle­ider 
der Präla­ten und der Plät­ze und der Häu­ser, die Bäu­me 
fie­len lau­tlos wie im Urwald, 
und die Ka­the­dra­le zit­ter­te, und man nahm ge­gen Mor­gen Ab­schied 
ohne Ta­schen­tücher und Tränen, die Lip­pen 
so troc­ken, ich wer­de dich nie wie­der se­hen, so vie­le Tode 
war­ten auf dich, wa­rum muß jede Stadt 
zum Je­ru­sa­lem wer­den und je­der 
Mensch zum Ju­den, und jetzt nur in Eile 
pac­ken, stän­dig, täglich 
und atem­los fah­ren nach Lem­berg, es ist ja 
vor­han­den, ru­hig und rein wie 
ein Pfir­sich. Lem­berg ist übe­rall. 

Aus dem Polnischen von Karl Dedecius , zitiert aus poezja.org

Das waren die Reisefrequenzen, heute unterwegs in Lemberg/Lviv in der Ukraine.

Tipps:
Wo: Lviv/Lemberg. Ukraine.
Was: 14 Stationen in der Stadt. Sehenswürdigkeiten, Eindrücke und Empfehlungen.
Hilfe für die Ukraine: Für den Raum Berlin/Brandenburg hat der rbb eine Liste mit Infos bereitgestellt https://www.rbb24.de/politik/thema/Ukraine/beitraege/ukraine-krieg-menschen-helfen-spenden-aktionen-russland.html
Infos: Infos zu Geschichte, Gebäuden, Ereignissen gibt es auf einer tolle Seite des Center for Urban History https://www.lvivcenter.org/en/
Literatur über Lemberg und Galizien:
Martin Pollack. Galizien. 2001.
Lutz C. Klevemann. Lemberg. 2017.
Olga Tokarczuk. Die Jakobsbücher. 2019.
Andrej Kurkow. Jimi Hendrix live in Lemberg. 2014.
♥️ Unser Lieblingsplatz: Lviv / Lemberg.

4 Gedanken zu „Lemberg/Lviv. Geschichte und Gegenwart – eine Reise in die Metropole der westlichen Ukraine.“

  1. Liebe Marike,
    schon verrückt, aber mir sind Asien und Neuseeland vertrauter als der Osten Europas. Hoffen wir, dass sich die Situation in der Ukraine entspannt! Dann steht Lemberg unbedingt auf der Liste der nächsten Städtereiseziele. Vielen Dank fürs Mitnehmen und Wecken der Reiselust !
    Liebe Grüße
    Elke

    Antworten
    • Liebe Elke,
      es freut mich, wenn ich Deine Reiselust in eine neue Richtung lenken konnte. Ich bin mir sicher, die Stadt wird Dir gefallen! Hoffentlich ist eine friedliche Reise dorthin bald wieder möglich.
      Liebe Grüße
      Marike

      Antworten
  2. Ich war vor einigen Jahren auch vier oder fünf Tage in der Lwiw/Lviv/Lemberg und total begeistert. Mich hat vor allem überrascht, dass sie viel weniger besucht wird als zum Beispiel die von ihrer Schönheit und historischen Bedeutung vergleichbaren Städte Prag oder Krakau, die ja ebenfalls weit im Osten liegen.

    Was mir übrigens auch sehr gut gefiel und was du hier gar nicht erwähnst, ist die nähere Umgebung. Da gibt es zahlreiche hübsche Schlösschen, leider oft in einem etwas traurigen Zustand. Das lässt sich mit einem Fahrzeug alles sehr leicht an einem einzigen Tag besuchen. Falls du wieder einmal dort bist, kann ich das empfehlen.

    Der Ukraine wünsche ich alles Gute in der aktuellen Krise!

    Antworten
  3. Hallo Oliver,
    danke für Deinen Kommentar. Stimmt, mich hat es auch verwundert, dass Lemberg/Lviv viel weiter abseits der touristischen Routen zu liegen scheint als Krakau oder Prag. Aber das ist auch ganz gut so. Prag kann man eigentlich nur noch im Winter besuchen 😉 . Lemberg/Lviv hat mich so aufgesogen, dass ich gar keine Zeit zum Rausfahren hatte. Du hast recht, ich muss unbedingt wieder hin, sobald als möglich. Auch ein Besuch in Czernowitz steht weit oben auf meiner Reisewunschliste.
    Ich schließe mich Deinen Wünschen für die Ukraine an.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Oli Antworten abbrechen

Wir freuen uns über Feedback

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. → weitere Infos in unserer Datenschutzerklärung